Flensburger Erklärung

Flensburger Erklärung

Flensburger Erklärung:
Gleichstellung digital
Grenzen überwinden Horizonte erweitern


Die 26. Bundeskonferenz der kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten greift das hochaktuelle Thema „Digitalisierung“ auf. Unsere Gesellschaft steht vor großen Veränderungsprozessen, die durch die Corona-Pandemie angetrieben wurde. Städte, Gemeinden und Landkreise müssen sich mehr denn je mit der Gestaltung von Digitalisierung befassen.


Digitalisierung kann zum Fluch oder Segen werden – sie braucht konkrete Gestaltung, um den Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten zu dienen und sie nicht zu beherrschen. Der dritte Gleichstellungsbericht der Bundesregierung hat sich mit der geschlechtergerechten Gestaltung der Digitalisierung befasst und konkrete Bereiche unserer Gesellschaft untersucht.


Die Bundeskonferenz hält die Anwendung einer konsistenten Gleichstellungspolitik bei allen Digitalisierungsprozessen für unverzichtbar und bezieht sich mit diesem Positionspapier auf die zentralen Impulse aus dem Gutachten für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Faire Beteiligung und Partizipation der bestausgebildeten Frauengeneration bei der Entwicklung von Technologien, Entwicklung einer geschlechtergerechten Arbeitswelt sowie der Schutz vor digitaler Gewalt und Diskriminierung stehen im Fokus.


Daten – Zahlen – Fakten


> Einen Studienabschluss in der Informatik machten im Jahr 2018 27.000 Studenten, aber nur 7.600 Studentinnen (20 Prozent der Frauen machten 2019 einen Studienabschluss in Informatik).


> Der Frauenanteil in der Digital und Informatikbranche lag 2018 bei 16 Prozent (131.521 Frauen gegenüber 659.975 Männern).


> Der Gender Pay Gap liegt in IT-Berufen bei 7 Prozent. Je kleiner der Betrieb, desto größer der Gender Pay Gap.


> Der Gender Leadership Gap liegt bei 5:1. (Frauenanteil an den Beschäftigten im Verhältnis zum Frauenanteil an der ersten Führungsebene)


> Der Teilzeitanteil von Frauen in IT-Berufen liegt bei 19 Prozent, bei den Männern bei 5 Prozent in ITBerufen. (Durchschnitt bei anderen Berufen: Frauen bei 31 Prozent, Männer bei 8 Prozent)


> Homeoffice und Care: Frauen und Männer weiteten im Homeoffice ihre unbezahlte Sorgearbeit aus, allerdings Frauen stärker als Männer.


> Verschränkung von Erwerbs- und Sorgearbeit: Frauen und Männer neigen bei starker Verschränkung zu einer gesundheitlichen Selbstgefährdung.


> Allein 70 Prozent der Mädchen in Deutschland haben schon digitale Gewalt oder Übergriffe erlebt, Frauen insgesamt sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.



Digitalen Wandel geschlechtergerecht gestalten


Der digitale Wandel kann nur gelingen, wenn er gleichstellungsorientiert gestaltet wird.


Die Arbeits- und Unternehmenskultur in der Digitalwirtschaft muss sich verändern: hin zu mehr Vielfalt. Bei Mädchen und jungen Frauen ist zudem das Interesse für Berufe in diesem Bereich zu wecken, ihnen ist der Einstieg zu erleichtern und ihnen sind gleiche Aufstiegschancen zu ermöglichen. Die CoronaPandemie bringt Schwung in die Digitalisierung. Immer mehr Menschen arbeiten von zuhause aus. Das erleichtert ihnen die Balance zwischen Erwerbs- und Sorgearbeit, sofern die Kinderbetreuung geregelt ist. Andererseits ist dieser Schub noch nicht in allen Branchen angekommen. Und nicht überall ist Homeoffice möglich, etwa in systemrelevanten (Frauen)Berufen wie der Pflege oder im Einzelhandel.


Das Internet braucht mehr Vielfalt und weniger Stereotypen


Auf Wikipedia, Facebook, WhatsApp, Instagram und Co. sehen wir viele Gesichter und lesen verschiedene Meinungen. Jede*r kann Teil davon sein und sich vernetzen. Viele Mädchen und Frauen tun das bereits: Sie treten für Gleichberechtigung ein und geben ihren Ideen eine Stimme. Aber auch in sozialen Medien werden Menschen ausgegrenzt oder bewegen sich nur in ihren Nischen. Häufig wird die Vielfalt unserer Gesellschaft online nicht ausreichend abgebildet oder von Stereotypen verdrängt.


Algorithmen sind nicht neutral


Künstliche Intelligenz (KI) prägt unser Leben. Wenn es um die Vergabe von Krediten geht oder um die Personalauswahl sind KI-Systeme, Algorithmen und ihre Daten die Grundlage für maßgebliche Entscheidungen, sie sind allerdings nie vollkommen neutral. Denn ein Algorithmus ist nur so gut wie die Daten, mit denen er trainiert wird. Er darf keine Stereotype oder diskriminierenden Strukturen abbilden und beispielsweise Elternzeit als Unterbrechung im Lebenslauf als Nachteil bei der Jobsuche werten. Die Entscheidungsverfahren solcher Systeme müssen transparent sein und sensibel behandelt werden.

Geschlechtergerechte Digitalisierung braucht einen strukturierten Fahrplan


Die Digitalisierung verändert unsere Lebens- und Arbeitswelt und kann für alle Vorteile bringen. Damit keine geschlechterspezifischen Ungleichheiten entstehen, braucht es die Bereitschaft Gleichstellungspolitik als Teil des digitalen Wandels zu berücksichtigen. Gleichstellungsorientierte Digitalisierung ermöglicht eine geschlechtergerechte Gestaltungsmacht in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.


Geschlechtergerechte Digitalisierung steht für:


> geschlechtergerechte Technikentwicklung, Zugang zu digitalisierungsbezogenen Kompetenzen unabhängig vom Geschlecht, Zugang zu digitalisierungsbezogenen Ressourcen (digitale Technologien, selbstbestimmter Zugang zu Zeit-, Raum- und informationeller Selbstbestimmung).


> Entgeltgleichheit, eigenständige wirtschaftliche Sicherung durch gleichberechtigte Integration in die digitalisierte Wirtschaft sowie Auflösung von Geschlechterstereotypen in der digitalisierten Wirtschaft sowie geschlechtergerechte Verteilung der unbezahlten Sorgearbeit im Kontext der Digitalisierung der Gesellschaft.


> Abbau von Diskriminierung und Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt in analogen und digitalen Räumen.


Geschlechtergerechte Transformation in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik


Mit unserer Kampagne #wenn, dann jetzt beziehen wir Stellung zur Situation in der Pflege. Wir solidarisieren uns mit Menschen, die in der Pflege um eine finanzielle Aufwertung ihrer Arbeit und um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Der Einsatz von Digitalisierungstechnik in der Pflegebranche bietet eine Chance für die Neubewertung der Tätigkeiten. Bisher haben digitalisierungsbezogene Anforderungen keinen Eingang in Arbeitsbewertungssysteme gefunden. Das muss sich ändern.


Die Digitalisierung muss für eine veränderte Bewertung und Ausgestaltung von Pflegeberufen genutzt werden durch:


> die Umsetzung eines angemessenen gesetzlichen Mindestlohns und eine Tarifbindung in der Pflegebranche.


> eine Neubewertung – auch durch veränderte technische Anwendungen – der einzelnen Tätigkeiten innerhalb der Berufe im Rahmen von Tarifverträgen sowie verbesserte Qualifizierungs- und Aufstiegsmöglichkeiten.


Gleichstellung als fester Bestandteil in der Regionalentwicklung


Die Gestaltung der Daseinsvorsorge hängt eng mit Vorstellungen von Geschlecht zusammen und bedingt sich gegenseitig. Die Kommission gleichwertiger Lebensverhältnisse hat richtig erkannt, dass Familienfreundlichkeit und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein wichtiger Standortfaktor für ländliche Räume sein können. Die Abwanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte, Familien, die mit und nach der Familiengründung im Zuverdiener-Modell leben, Altersarmut von Frauen bestimmen sonst das Leben in ländlichen Räumen. Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte gestalten die Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen aktiv mit. Das gilt es zu stärken.


Eine gleichstellungsorientierte Regionalentwicklung kann nur erfolgreich sein, wenn


> finanzielle Mittel in den Ausbau der technischen Infrastruktur investiert werden und wohnortnahe ambulante, niedrigschwellige Angebote für Familien, besonders für Alleinerziehende weiter ausgebaut werden.


> Daseinsvorsorge in der Regionalentwicklung ländlicher Räume eine Geschlechterperspektive beinhaltet und Strukturpolitik mit Gleichstellungsthemen gemeinsam denkt. Dafür müssen kommunale Gleichstellungsbeauftragte mit ausreichendem Stundenanteil, Ressourcen und Rechten ausgestattet sein sowie über technische Möglichkeiten für Videokonferenzen, -tagungen und -veranstaltungen verfügen.


Die Umsetzung von Digitalisierung in der Kommunalverwaltung benötigt vielfältige Beteiligung, Analyseinstrumente, Weiterbildung und eine auf Akzeptanz ausgerichtete Unternehmenskultur


Interne Erhebungen in Kommunalverwaltungen zeigen, dass weibliche Beschäftigte von der Substitution ihrer Tätigkeiten besonders betroffen sein werden. Hier ist ein Personalkonzept erforderlich, das die Employability (Einsetzbarkeit im Beruf) aller Beschäftigten für die zukünftig veränderten Aufgaben sicherstellt, ohne dass es zu Brüchen in der Erwerbsbiografie kommt. Dabei stehen auf der einen Seite die zielgerichtete Potentialanalyse und Weiterbildung im Fokus. Auf der anderen Seite gilt es auch, den Beschäftigten Sicherheit zu vermitteln, in einem Arbeitsumfeld, das für viele zunehmend unbeständig, unsicher, komplex und mehrdeutig wirkt. Intention aller Beteiligter sollte sein, Beschäftigte zu Profiteurinnen und Profiteuren von Digitalisierungsstrategien zu machen, Fluktuationen zu vermeiden und sich als zukunftsorientierte und attraktive Arbeitgeberin zu positionieren.


Die Umsetzung von Digitalisierungsprojekten in Kommunen muss folgende Fragestellungen berücksichtigen:


> Wie müssen Konzepte von guter geschlechtergerechter digitalisierter Arbeit aussehen sowie institutionelle Benachteiligungen aufgehoben werden und wie können Verwaltungen ihre spezifischen Gestaltungsspielraume für den Abbau von Geschlechterungleichheit nutzen?


> Wie kann Geschlechtergerechtigkeit Aufgabe der Organisations- und Personalentwicklung und nicht nur Aufgabe einer individuellen Bildung bzw. Weiterbildung bleiben?


Geschlechtergerechte Gestaltung der digitalen Arbeitswelt


„Durch mobiles Arbeiten wird die Zeit sowohl für Sorgearbeit, die auf andere gezogen ist, als auch für Erwerbsarbeit erhöht. Die pro Tag zur Verfügung stehende Zeit für Selbstsorge wird folglich geringer, für beide Geschlechter.“


Die Digitalisierung in der Arbeitswelt muss über Regelungen zum Homeoffice und mobiler Arbeit gestaltet werden durch:


neue Gesetze zu Homeoffice und mobilem Arbeiten müssen die Diskriminierungseffekte auf Frauen systematisch ausschließen. Dazu sind Standards festzulegen, die größtmögliche Selbstbestimmung über den wechselnden Arbeitsort geben, eine ausreichende Präsenz von Frauen bei Beratungen und Entscheidungen im Betrieb sicherstellen und den Schutz vor Entgrenzung sowie gleichen Zugang zu mobilen Arbeitsmitteln gewährleiste.


Arbeitsschutz mit seinen vielfältigen Regelungen: dort sind bereits vielfältige Maßnahmen, die eine Entgrenzung von Erwerbsarbeit durch Homeoffice oder mobiles Arbeiten verhindern, geregelt. Betriebliche Vereinbarungen müssen sich daran orientieren.


Wahlarbeitszeit: diese kann die zeitliche tägliche Lage und Arbeitsunterbrechungen der Arbeitszeit ermöglichen.


Abwägungs- und Aushandlungsprozess: in diesem Prozess zwischen den Anforderungen der Bürger*innen, den Anforderungen des Unternehmens und den Anforderungen des jeweiligen Teams müssen die persönlichen Belange der Beschäftigten einfließen. Das Lösungspotenzial der Beschäftigten kann bei Zielkonflikten hilfreich sein kann.


Beachtung der gesundheitsrelevanten Dimension: die Wechselwirkungen zwischen Sorge- und Erwerbsarbeit müssen bei der Prüfung und Behandlung von Risikofaktoren im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsschutzes einbezogen werden.


Vereinbarungen in den Nebenbestimmungen: die Regelungen zum Homeoffice und zur mobilen Arbeit müssen in den Nebenbestimmungen, in der Kommunikation und in der Schulung von Führungskräften und Beschäftigten die Themen Entgrenzung und Selbstschutz bzw. Selbstfürsorge mit einbeziehen.


Mehr Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt im Netz


Viele Formen und Instrumente, mit denen geschlechtsbezogene Gewalt ausgeübt wird, wurden erst mit der Digitalisierung möglich. Digitale Gewalt ist kein von analoger Gewalt losgelöstes Phänomen, sondern setzt diese fort und ergänzt sie. Viele Instrumente, mit denen digitale Gewalt ausgeübt wird, sind neu und führen dazu, dass die Übergänge zwischen dem „virtuellen“ oder digitalen Raum und dem „realen“ oder materiellen Raum verschwimmen. Daher kann von einer neuen Qualität der Gewalt gesprochen werden, die neue Herausforderungen mit sich bringt. Um geschlechtsbezogener digitaler Gewalt entgegenzutreten, ist es daher wichtig, Maßnahmen zu ergreifen, die die neue Qualität dieser Gewalt berücksichtigen.


Der Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt im Netz ist erreichbar durch:


> Förderung und den Ausbau zivilgesellschaftlicher Initiativen und Projekte zu diesem Thema.


> Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Berater*innen durch Fortbildung und Supervisionsmöglichkeiten und Maßnahmen zu deren Schutz.


> Aufbau von Kompetenzen und nachhaltigen Strukturen bei Polizei-, Strafverfolgungs- und Ordnungsbehörden und in der Justiz.


> Entwicklung von Indikatoren für die Erfassung und das Monitoring digitaler Gewalt.


> Bekämpfung von Cyberstalking und die Evaluation des Upskirting-Verbotes.